Hermann Ritter: Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen - neue Formen der Gruppenarbeit?

Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen bei Jugendlichen – neue Formen der Gruppenarbeit?

Diplomarbeit, vorgelegt von
Hermann Ritter


Ausbildungskurs 1984/88

Erstkorrektor:
Frau Professor Nieder



„Dungeons and Dragons ist von dem Gedankengut Satans, des Teufels, durchsetzt, der schon immer Habgier, Gewalttätigkeit und Dämonismus gefördert hat.“

Die Zeugen Jehovas in “Erwachet!” vom 22. Juni 1982


„Es gibt kein Geschlecht im Psychodrama. Ein alter Mann kann ein Kind darstellen, ein Kind einen Greis. Es gibt kein Alter im Psychodrama. Ein Toter kann ins Leben zurückgerufen werden. Es gibt keinen Tod im Psychodrama.
Das Psychodrama ist die Rückkehr der Magie in die Wissenschaft. Es setzt quasi den ganzen Kosmos in Szene.“

Jacob Levy Moreno (Moreno, 1974, S. 420)



Inhalt:

1.0 Einführung

2.0 Was sind FRS?
2.1 Einleitung
2.2 Die Geschichte der FRS
2.3 Die Regeln
2.4 Das Spiel

3.0 Warum werden FRS gespielt?
3.1 Einleitung
3.2 Der Wunsch nach Unterhaltung
3.3 Der Wunsch nach der Gruppe
3.4 Die Suche nach der Zuflucht
3.5 Die Sehnsucht nach dem II. Ich

4.0 Die Paralellen zwischen Psychodrama und FRS
4.1 Einleitung
4.2 Die Struktur im Vergleich
4.2.1 Die Phasen
4.2.2 Die Methoden
4.2.3 Der Spielleiter
4.3 Die Funktion im Vergleich
4.3.1 Der Weg aus der Realität
4.3.2 Die Aufgaben

5.0 Die Einsatzmöglichkeiten für das FRS
5.1 Einleitung
5.2 Nötige Veränderungen am FRS
5.3 Mögliche Einsatzfelder für das FRS

6.0 Praxisbeispiele für den Einsatz von FRS in der Gruppenarbeit
6.1 Einleitung
6.2 Die Rahmenbedingungen
6.2.1 Die Spielergruppe
6.2.2 Die Abenteuer
6.3 Theoretische Überlegungen und praktische Beispiele
6.3.1 Die Bildung einer Spielergruppe
6.3.2 Die Erstellung von Charakteren
6.3.3 Das Schreiben eines Abenteuers
6.3.4 Beim Spielen
6.3.5 Die Nachbereitung

7.0 Zusammenfassung
7.1 Einleitung
7.2 Ausblick

8.0 Literaturverzeichnis

9.0 Erklärung

Danksagungen

Anmerkungen



1.0 Einführung

Fantasy-Rollenspiele (im folgenden mit FRS abgekürzt) finden in Deutschland eine immer größere Verbreitung. Die Verkaufszahlen einiger Spiele gehen in die Zehntausende. Trotzdem gibt es (fast) keine Literatur über dieses Spiel, welches schon allein wegen seiner Verbreitung unter Jugendlichen und seiner Bedeutung für deren Leben für die Sozialarbeit interessant sein sollte. Leider ist zu beobachten, daß sich Sozialarbeiter (aber auch andere in sozialen Berufen tätige und Verfasser von Artikeln über FRS) eine Meinung über FRS bilden, ohne sich mit der Materie vorher beschäftigt zu haben oder wenigstens einmal selber FRS gespielt zu haben. Diese voreiligen Meinungen haben mich geärgert. Ich will mit meiner Arbeit versuchen, andere und neue Kriterien für die Beurteilung von FRS zu erarbeiten und darzustellen.

Ich selbst spiele seit Jahren FRS. 1982 kam ich mit ihnen in Berührung, und seitdem haben sie mich „nicht wieder losgelassen“. Zum Teil ist es auch meine eigene Faszination, die ich hier beschreibe und untersuche. Ich will versuchen, trotz meiner eigenen Verbindung mit den FRS objektiv über sie zu urteilen – obwohl mir klar ist, daß dieses für jemanden, der selber FRS-Enthusiast ist, ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Diese Objektivität ist auch unmöglich, weil die Mitglieder meiner Spielergruppe mit mir befreundet sind. Deshalb mag es sein, daß ich sie in einigen Fällen vermissen lasse.

Wenn ich in meiner Arbeit Zitate und Beispiele ohne Quellenangabe wiedergebe, dann stammen sie aus Interviews und Spielen, die ich im letzten halben Jahr (mit und ohne Tonband, um das Gespräch nicht zu stören) mit den Spielern “meiner” Spielergruppe durchgeführt habe. Die Spielergruppe existiert seit 1982, und seitdem treffen wir uns öfters (ein- bis zweimal im Monat) und spielen verschiedene Kampagnen (= Serien von Spielen vor einem gemeinsamen Hintergrund) mit verschiedenen FRS-Regelsystemen.




2.0 Was sind FRS?

2.1 Einleitung

Wie sieht eine typische Spielsituation aus? Wie ist das Spiel aufgebaut? Um zu verstehen, was bei einem FRS passiert, ist es wichtig, seine Hintergründe zu kennen. Diese will ich – in kurzer Form – im Folgenden erläutern. Um die Unterschiede des FRS zu herkömmlichen Spielen aufzuzeigen, möchte ich zunächst eine Spielszene vorausschicken:

Hicks, der Watz hebt den Kampfstab hoch und schlägt dem vor ihm stehenden Wächter auf den Hinterkopf (Hicks' Spieler würfelt und erreicht einen Mindestwert. Dann würfelt er für den erzielten Schaden und schlägt – durch sein hohes Ergebnis – den Wächter ohnmächtig). Herold, der Heilbiber, stürzt sofort nach vorne, beugt sich über den ohnmächtigen Wächter und verbindet ihm die blutende Wunde. Duh Bösewicht, der Wicht, wendet sich der verschlossenen Tür zu und begutachtet 10 Minuten lang das Schloß (der Spieler würfelt, ob er das Schloß öffnen kann. Es gelingt). Die Tür geht auf. Im dahinterliegenden Raum ist ein Elbe zu sehen. Leise wird die Tür wieder geschlossen (noch ein Würfelwurf – diesmal durch den Spielleiter. Der Wächter hat nichts gehört). Otto, der Ottomane, zieht sich einen kurzen Moment zurück und verwandelt sich in den Wächter, den man eben niedergeschlagen hat (Ottos Spieler würfelt – der Zauber klappt, und Otto verwandelt sich in den Wächter). Er betritt in Begleitung der anderen den Raum.


2.2 Die Geschichte der FRS

Der Amerikaner Gary Gygax veröffentlichte 1974 die ersten FRS-Regeln – “Dungeons & Dragons”. Auf der einen Seite sollten sie eine möglichst große Realitätsnähe des Spiels ermöglichen – die Regeln sollten in der Lage sein, alle Situationen zu erfassen, die “im täglichen Leben” auf einer Fantasy-Welt auch vorkommen könnten; auf der anderen Seite baute Gygax reine Fantasy-Elemente ein, er erfand “logische” Grundlagen für das Funktionieren von Magie, eine Götterwelt, Hintergrundinformationen über das Leben verschiedener Rassen (z.B. Elfen und Zwerge) usw.

Gygax baute auf seinen Erfahrungen aus den “Tabletop-Spielen” auf – Schlacht-Simulationen mit Figuren, die den Anspruch erheben, historische Kampfsituationen “realistisch” nachzugestalten. Aus diesen Regeln übernahm Gygax das Kampfsystem, während seiner eigenen Phantasie (und der seiner Mitarbeiter) die Grundzüge für den phantastischen Teil des Spieles entsprangen – die Formulierung von Grundlagen der Magie für eine archaische Welt.1

Am Anfang war “D&D” (so die offizielle Abkürzung) nur ein bescheidener Erfolg beschieden. Doch nach einigen Jahren setzte für Gygax und seine für “D&D” gegründete Firma der wirtschaftliche Siegeszug ein. Schnell folgten in Amerika andere FRS-Systeme – mit z.T. anderen Hintergründen als der Fantasy-Literatur. So gibt es heute u.a. auf Comics aufbauende Superhelden-Rollenspiele (z.B. “Golden Heroes”), Horror-Rollenspiele (z.B. “Call of Cthulhu”), ein “Denver”-Rollenspiel, diverse “Wild-West”-Rollenspiele, Science-Fiction-Varianten (“Traveller”), aber auch diverse “D&D”-Konkurrenten (z.B. “RuneQuest” oder “Tunnels & Trolls”).

1977 schwappte diese Welle auch nach Deutschland, und in den folgenden Jahren erschienen hier nicht nur Lizenzausgaben amerikanischer Rollenspiele (wie “D&D” und “Traveller”), sondern es entwickelte sich – mit Spielen wie “Midgard” und “Das schwarze Auge” – auch ein deutscher Markt mit hohen Auflagen.2

Mit der Verbreitung der Rollenspiele in Deutschland entwickelten sich auch die Rollenspiel-Fanclubs. So gibt es heute “produktspezifische” Fan-Clubs (besonders bei den weitverbreiteten Spielen wie “D&D” und “Midgard”), aber auch Vereinigungen, die sich allgemein mit der Pflege des Rollenspiels beschäftigen.3


2.3 Die Regeln

Die Regeln haben beim FRS eine nur untergeordnete Rolle – „Jeder Spieler entscheidet in Absprache mit seinen Mitspielern völlig frei über die Vorgehensweise seiner Spielfigur. [...] Dem Spieler stehen im Spiel alle Möglichkeiten offen, die ein Bewohner der Spielwelt in der betreffenden Situation tatsächlich hätte. In herkömmlichen Spielen sind dem Spieler dagegen nur die Handlungen gestattet, die ausdrücklich in den Regeln aufgeführt sind.“ (Franke in “Knaurs Buch der Rollenspiele”, S. 9).

Ich gehe hier etwas länger auf die Regeln ein, um die grundsätzlichen Spielmechanismen zu erklären; im Spiel selber haben die Regeln eine geringere Bedeutung, als aus ihrer Ausführlichkeit heraus zu vermuten wäre. Bei der Beschreibung der Aufgaben der Regeln beziehe ich mich auf Kathes Funktions-Dreiteilung derselben.

Laut Kathe stellen die Regeln „1. die Naturgesetze einer Spielwelt dar, setzen 2. die Rahmenbedingungen für das aktuelle Spiel und ermöglichen 3. eine Beurteilung und Belohnung des Spielerverhaltens. Auch eine Fantasywelt benötigt Naturgesetze. Und zwar als feste Planungsgrundlage für das Verhalten der Spielerfiguren. Wenn gleiche Handlungen immer verschiedene Folgen hätten, wäre es egal, was Ihre Figur täte.“ (Kathe, S. 20).

  1. Die Naturgesetze (hier nicht als physikalische Gesetze verstanden) enthalten die Hintergrundinformationen über die Spielwelt; z.B. Preislisten, Landkarten, die religiöse und politische Situation, aber auch Abhandlungen über nichtmenschliche Rassen und die Götterwelt.4

    Ebenfalls zu den Naturgesetzen gehören die Regeln zur Erarbeitung einer eigenen Spielfigur – des sogenannten Charakters. Ein Charakter besteht aus Zahlenwerten, die seine Grundeigenschaften (z.B. Stärke, Konstitution, Geschicklichkeit, Zaubertalent und Aussehen) festlegen. Diese Werte werden meist durch Würfelwürfe festgelegt und dann in einfachen Zahlenwerten festgehalten, damit man sie leichter als Vergleichswert benutzen kann.

    Dann erfolgt die Wahl der Rasse für den Charakter – die meisten Regelsysteme geben eine Liste von Möglichkeiten vor. Dazu kommt dann die Wahl von Ausbildung und Beruf. Für jeden Beruf gibt es eine Liste der Fertigkeiten, die ein Charakter zu Beginn eines Spieles hat. Die letzten Vorbereitungen sind dann meist die Festlegung eines eigenen Namens für den Charakter und der Erhalt einer Grundausrüstung.5

  2. Die Rahmenbedingungen sind die Regeln zum Einsatz von Fertigkeiten. Um eine Fertigkeit erfolgreich anwenden zu können, wird das Würfeln eines Mindestergebnisses verlangt.6 Jedoch – „dem allesentscheidenden Zufall darf dem Spiel zuliebe nur eine untergeordnete Rolle zukommen – denn das Schicksal läßt sich nicht manipulieren.“ (Kathe, S. 9). Im Spiel selber (d.h. nach der Ausarbeitung eines Charakters, die vor dem eigentlichen Spiel stattfindet) erfordern nur wenige Dinge die Benutzung von Würfeln – das Spiel ist eben kein Glücksspiel, in dem es auf das Würfeln von guten Zahlen in passenden Momenten ankommt, sondern der Einsatz der “Gaben” des eigenen Charakters ist entscheidend – das “Rollenspielen” steht im Vordergrund. Eine exzessive Benutzung von Zufallswürfen macht das Spiel uninteressant.7

  3. Charaktere lernen von Spiel zu Spiel etwas hinzu – auf der einen Seite wird ein Spieler erfahrener, auf der anderen Seite verbringt der Charakter seine Zeit auf der Spielwelt mit Trainieren und lernt „durch das Leben“ hinzu. Dies soll auch im FRS simuliert werden. So vergibt der Spielleiter nach einem Spiel “Erfahrungspunkte”, eine Art Belohnung/ Bewertung für gutes Spielen. Mit der Vergabe dieser Punkte findet eine Beurteilung des einzelnen Spieler- und Charakterverhaltens durch den Spielleiter statt.

    Die Erfahrungspunkte dienen dazu, den Charakter auf eine neue “Stufe der Erfahrung” zu heben – er wendet nun seine Fertigkeiten besser an, ist vielleicht stärker, geschickter und robuster geworden. Sein Ansehen und seine Macht auf der Spielwelt hängen stark von seiner “Stufe der Erfahrung” ab, weshalb manche Spiele zu einer Jagd nach Erfahrungspunkten entarten können.


2.4 Das Spiel

Um ein Spiel zu beginnen, braucht man zuerst einen Spielleiter. Was ist die Funktion des Spielleiters? Kathe unterscheidet fünf Aufgaben: 1. Animateur, 2. Sinnesorgan der Spieler, 3. Moderator, 4. Schiedsrichter und 5. Supervisor (nach: Kathe, S. 53f.).

  1. Als Animateur ist es seine Aufgabe, ein interessantes Spiel zu erstellen und bei den Spielern ein Interesse zum Mitspielen und zum Aufbau einer Spielergruppe zu erwecken.

  2. Als Sinnesorgan ist seine Aufgabe schon komplexer – während die Spieler “nur” einzelne Charaktere auf der Spielwelt darstellen, simuliert der Spielleiter ihre Umgebung, er ist die restliche Welt, er spielt alle Begegnungen der Charaktere mit “Einwohnern”, alle Umwelteinflüsse, göttliche Eingriffe usw. Die Spieler sehen die Spielwelt nicht selber – sie können nur fragen „Was sehe ich?“. Der Spielleiter ist ihre Brücke zur Spielwelt, er gibt ihre Sinneseindrücke wieder – er funktioniert als externes Wahrnehmungsorgan.

  3. Die Moderator-Aufgabe ist im Verlauf des Spieles die eines außenstehenden Beobachters. Er muß dann das Spielinteresse des Einzelnen wachhalten – z.B. indem er in Einzelfällen den Tod einer Spielfigur verhindert oder nur einfach zugunsten der Spielergruppe schummelt.8 Andererseits muß er von Abenteuer zu Abenteuer mit der Weiterentwicklung der Spielergruppe Schritt halten, er muß seine Abenteuer nicht nur den Fähigkeiten sondern auch den Interessen der Spieler anpassen (nicht zuletzt als “Animateur”).

  4. Dem Spielleiter als Schiedsrichter ist göttliche Allmacht zu eigen, gegen seine Entscheidungen gibt es kein Veto. Wie sollte es auch möglich sein, ein Veto einzulegen, da er gleichzeitig Schiedsrichter über die Einhaltung der Naturgesetze und Rahmenbedingungen ist und die Naturgesetze und Rahmenbedingungen selbst? Im FRS sind die Regeln als schriftliche Niederlegung der Grundprinzipien des Spiels weniger wichtig als die Entscheidungen des Spielleiters, der über den Regeln steht. Huizingas Aussage „die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel“ (Huizinga, S. 18) läßt sich auf die Funktion des Spielleiters im FRS übertragen.9

  5. Die letzte Funktion – die des Supervisors – ergibt sich aus der Schiedsrichter-Funktion. Da der Spielleiter den Hintergrund des Abenteuers im Kopf hat, muß er auch für den Erhalt des Kausalitätsprinzips sorgen – er organisiert Vergeltungsmaßnahmen von geschädigten Personen, göttliche Rachemaßnahmen, Belohnungen und die Weiterentwicklung der Spielwelt. Er ist derjenige, der immer alle Aspekte der Welt im Auge behalten muß.

Auf diesen Regeln aufbauend kann man nun entweder ein eigenes Spiel schreiben oder ein fertiges Spiel (Abenteuer genannt) kaufen. Die eigenen Abenteuer sind jedoch meist reizvoller als die meist sehr sterilen gekauften. Gerade die gekauften Abenteuer widersprechen der Faszination des Erschaffens einer eigene Welt. Wäre das Benutzen der Hintergründe einer vorgegebenen Welt Ziel, könnten die Abenteuer auch vor dem Hintergrund der Realität spielen. Gerade dies ist aber nicht der Fall. Kathe bezeichnet diesen Part des Spielleiters als „Autor mit begrenzter Befugnis“ (Kathe, S. 10), ich würde es als Versuch einer “Co-Kreation” bezeichnen.




3.0 Warum werden FRS gespielt?

3.1 Einleitung

Im Folgenden versuche ich herauszuarbeiten, was Spieler an den FRS begeistert, was sie dazu bewegt, ihre Freizeit damit zu verbringen. Dazu untersuchte ich die Äußerungen von FRS-Spielern – aus Büchern, Artikeln und persönlichen Gesprächen.

Beim Vergleichen der Aussagen lassen sich vier verschiedene Gründe feststellen, warum Spieler FRS spielen. Es lassen sich jedoch Unterschiede in der Deutlichkeit der Gründe für die Spieler selbst feststellen. Während jeder den Wunsch nach Unterhaltung und den Wunsch nach einer Gruppe nennt, sind die Suche nach der Zuflucht und die Sehnsucht nach dem II. Ich erst nach einigen Nachfragen oder überhaupt nicht genannt worden. Die Reihenfolge der vier Punkte im Folgenden entspricht der Reihenfolge im Bewußtsein der Befragten. Die vier Gründe sind:

1. Der Wunsch nach Unterhaltung,
2. der Wunsch nach der Gruppe,
3. die Suche nach der Zuflucht und
4. die Sehnsucht nach dem II. Ich.

Auf diese vier Themen möchte ich im Folgenden eingehen.


3.2 Der Wunsch nach Unterhaltung

Ganz einfach könnte man sagen, daß Phantasie und Rollenspielen den Spieler unterhalten; Franke bezeichnet die “gesellige Unterhaltung” als den Grund für das Spielen von FRS (nach Franke in “Knaurs Buch der Fantasy-Rollenspiele”, S. 10). Doch woran liegt es, daß die Spieler sich die Zeit mit FRS vertreiben und nicht mit anderen Spielen? Wo liegt der Unterschied zwischen FRS und “normalen” Spielen?

Der Reiz mag in der Art der Unterhaltung liegen, die FRS anderen Spielen gegenüber haben. FRS regen Kreativität und Phantasie an – sowohl beim Ausarbeiten und Spielen einer fiktiven Welt als auch beim Erarbeiten und Führen eines eigenen Charakters.

„Die Tatsache, daß Verstand und Vorstellungsvermögen eine wichtige Voraussetzung für den Spielerfolg sind, ist ein Hauptgrund für die große Anziehungskraft der Fantasy-Rollenspiele auf so viele überdurchschnittlich intelligente Menschen.“

Weldon/Björnstad, S. 21

Rollenspiele sind kreative Spiele, sie sprechen die Phantasie sehr stark an. Sie bieten eine Art der Unterhaltung, die von anderen Spielen her unbekannt ist.


3.3 Der Wunsch nach der Gruppe

Rollenspiele sind Gruppenspiele. Ein Teil des FRS-Reizes ist die Gruppensituation – verschiedene Charaktere versuchen gemeinsam (!), ein Problem zu lösen. Die meisten Spieler wollen nicht alleine spielen – ganz im Gegenteil. Nach einiger Zeit bildete sich aus unserer Spielergruppe heraus ein Freundeskreis – die Mitgliedschaften in Freundeskreis und Spielergruppe bedingen sich inzwischen gegenseitig. So ist es zu beobachten, daß persönliche Aversionen gegen Mitspieler zu ihrem Ausschluß aus der Spielergruppe führen. Auch stellt sich nach einer Weile des gemeinsamen Spielens der Wunsch nach einem “mehr” an gemeinsamen Aktivitäten ein – die mit FRS nichts zu tun haben. Aus dem gemeinsamen Interesse an FRS und dem Wunsch nach einer Gruppe entstand ein Kreis, der beides bietet.

Jedoch sollte man nicht den Fehler machen, anzunehmen, daß nur die gegenseitige Sympathie zur Bildung unserer Rollenspiel-Gruppe geführt hätte. Argelander zitiert Sherif, um zu beweisen, daß eine Gruppe sich nicht nur aufgrund eines gemeinsamen Sympathiegefühls bildet (nach Argelander, S. 48f.) – das FRS-Spielen in einer Gruppe über mehrere Abenteuer hinweg führt zwangsläufig zur Bildung eines Freundeskreises.


3.4 Die Suche nach der Zuflucht

Rollenspiele geben Ihnen immer die Gelegenheit, dem Alltagstrott eine Schaufel Mist ins Gesicht zu kippen und für einige Stunden in eine andere Welt zu flüchten, in der Sie Drachen jagen, unbekannte Planeten erforschen oder dem gefürchtesten Revolvermann jenseits des Missouri zwei Pfund Blei in die Rippen jagen können.“

Kaiser in “Das große Buch der Fantasy-Rollenspiele”, S. 18610

Und was macht es dann schon, wenn der böse Zauberer genauso aussieht wie der eigene Vater, oder das Truppengebäude der dunklen Horden dieselbe Form hat wie das Kreiswehrersatzamt? Die Realität wird im Rollenspiel angesprochen und bearbeitet. So tauchten in den Spielen unserer Spielergruppe bekannte Dinge aus unserem Umfeld auf – Familienmitglieder, Freunde, aber auch Gebäude, Bücher und Musikstücke.

Die Spielwelt kann von der Realität nicht komplett unterschiedlich sein, weil sie von Menschen erschaffen wird. Und doch bildet sie eine andere Realität. Ein Spielleiter wird mit folgenden Worten zitiert: „Für ein paar Stunden ist jeder bereit, diese Welt zu akzeptieren – zu akzeptieren, daß du behauptest, ein Magier zu sein, der explodierende Feuerbälle aus seiner Hand losschicken kann. Die Phantasie wird zur Wirklichkeit, zu einer Art “zweisamer Verrücktheit”, einer gemeinsamen Wirklichkeit.“ (Weldon/Björnstad, S. 51). Diese Akzeptanz einer Spielwelt ist mir von allen Spielern, die ich kenne, in mehr oder minder starker Form bekannt.

Der Wunsch nach der Erschaffung einer Traumwelt ist legitim. Die FRS-Spieler spielen mit und in dieser Welt – andere Menschen haben andere Wege gefunden, in eine Traumwelt vorzustoßen.11 Der Mensch sucht sich alternative Realitäten, um für kurze Zeit seinen Problemen entfliehen zu können. Das Problem beim FRS tritt auf, wenn man sich in der anderen Welt mehr zuhause fühlt als in der Realität – doch diese Gefahr ist bei jeder Form der Weltflucht gegeben. Da es sich beim FRS jedoch um eine “Gruppenreise ins Traumland” handelt, ist meiner Ansicht nach die Gefahr der kompletten Weltflucht in die Phantasie geringer als bei Solo-Phantastereien – es gibt immer eine Spielergruppe im Hintergrund, die Fluchtbewegungen erkennen kann. Und da neben der Bindung durch das FRS auch persönliche Bindungen bestehen (siehe “3.3 Der Wunsch nach der Gruppe”) ist ein Abgleiten, das niemand auffällt, sehr unwahrscheinlich. Und wenn es den anderen Spielern auffällt, so werden sie (hoffentlich) etwas dagegen unternehmen.


3.5 Die Sehnsucht nach dem II. Ich

Eine der Grundvoraussetzungen des FRS ist das Spielen einer anderen Persönlichkeit, eines II. Ichs. Die Spieler „... gehen in das Spiel ein, indem sie aus ihren jeweiligen Alltagsrollen in die Rollen der Fantasy-Figuren schlüpfen – Figuren, die oftmals völlig andere Eigenschaften haben als ihre Spieler. (Wer kann schon mit Tieren reden?) Dementsprechend verändert sich das – vorgestellte – Verhalten der Spieler. Sie tun so, als ob..., sie stellen sich vor, was in ihnen steckt, wenn... Sie können sich ausleben auf Gebieten, die ihnen sonst verwehrt sind.“ (Kathe, S. 18)

Die Charaktere werden so gespielt, als seien sie vom Spieler getrennte Einzelexistenzen. Charakter und Spieler sind nicht identisch – „Wer kann schon mit Tieren reden?“ – aber die Persönlichkeit beider ist dieselbe. Viele Spieler wollen dies nicht wahrhaben – der Charakter wird zur Maske, hinter der man sich verstecken kann („Die Morde waren nicht meine Idee, meine Figur ist halt so.“).

Bei den Spielern sind zwei Ansichten zu beobachten. Während die einen sehr wohl wissen, daß sie in FRS nur sich selber spielen können, “leugnet” die andere Hälfte jeden Zusammenhang zwischen den Taten ihres Charakters und sich selbst12, wobei ihnen oft selbst nicht klar ist, daß der Charakter und sie selbst ein und dieselbe Person sind. Diese Schutzfunktion erlaubt es, verdrängte oder unterdrückte Seiten ihrer Persönlichkeit im Spiel auszuleben. So wird der ZDL im Spiel zum Mann mit Schild und Morgenstern, oder der Student wird zur Geheimagentin. „Man reagiert sich ab hinter der Maske der Figuren.“ (Kathe, S. 50)

Der zweite Anreiz des Spielens eines II. Ichs ist der der “Ersatzbefriedigung”.13 Was man im richtigen Leben nicht erreichen kann (Reichtum, Frauen, Macht) kann die Spielfigur erreichen – und diese Ziele sind auch das, was die meisten Figuren anstreben (obwohl der Wunsch nach Liebe und Zuneigung weit weniger häufig zugegeben/ zugelassen wird als der Wunsch nach materiellen Gütern). Analog zu Trescher (“Narzißmus und Comic” in “Reproduktion der frühen Erfahrung”, S. 181-197) könnte man von einer „illusorischen Verschmelzung mit dem Helden, der Übernahme seiner Allmacht“ reden (S. 191).14

Beide Wünsche – der des Auslebens in einer scheinbar fremden Persönlichkeit und der Wunsch nach Macht im Körper eines Fantasy-Helden – begründen das Interesse an einem II. Ich.




4.0 Die Paralellen zwischen Psychodrama und FRS

4.1 Einleitung

Leider gibt es kaum Literatur über dieses Thema. Außer Kathes Diplomarbeit (“Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen”) existieren nur kurze Hinweise in der FRS-Literatur. So schreibt Franke lapidar, daß „ernsthaftere Rollenspiele“ als FRS „ja auch in der Psychotherapie eingesetzt“ werden, ohne näher darauf einzugehen (Franke in “Knaurs Buch der Rollenspiele”, S. 18), während Staden ausführt: „Der Vater der Fantasy-Rollenspiele heißt Jacob Levy Moreno“ (in “Das große Buch der Rollenspiele”, S. 30), ebenfalls ohne dies zu erläutern. Ich will hier versuchen, die Paralellen zwischen Psychodrama und FRS in Struktur und Funktion zu beschreiben.


4.2. Die Struktur im Vergleich

4.2.1 Die Phasen

Moreno unterscheidet drei Phasen des Psychodramas (nach Leutz, S. 94-106).15:

1. Die Aufwärmphase (Warming-up),
2. die Spielphase,
3. die Gesprächs- und Abschlußphase.

  1. Sowohl im Psychodrama als auch im FRS findet vor dem eigentlichen Spiel eine Aufwärmphase statt. Im FRS wird noch einmal über das letzte Spiel informiert, die Spieler gewöhnen sich an ihre Charaktere und stimmen sich auf das Abenteuer ein. Während im Psychodrama das Thema des Rollenspiels noch nicht festliegt, sondern erst spontan bestimmt wird, ist dem Spielleiter beim FRS das Thema schon bekannt. Er hat das Abenteuer fertig vorbereitet und Änderungen in der Thematik, um jetzt noch auf einzelne Personen oder Ereignisse näher einzugehen, sind (wenn überhaupt) nur in geringem Maße möglich. Der zweite große Unterschied ist, daß im Psychodrama – im Gegensatz zum FRS – die Zahl der Akteure nicht mit der Zahl der Anwesenden identisch ist, die Rolle des reinen und neutralen Beobachters ist im FRS unbekannt.

  2. Nach der Aufwärmphase folgt die Spielphase. Bei FRS und Psychodrama nimmt nun die Phantasie den Platz der Realität ein, doch während das FRS vordergründig nichts mit der Realität gemeinsam haben will, spielt das Psychodrama meistens reale oder zumindest realistische Szenen (siehe “4.2.2 Die Methoden”). Das Psychodrama legt schon im Spiel durch seine realistische Handlung die Grundvoraussetzungen zu seiner eigenen Auswertung, da es an den Kriterien der Realität gemessen werden kann. Das FRS will ein Ort der Nicht-Realität sein, und es ist darum vordergründig nicht mit realen Maßstäben meßbar – die Charaktere sind angeblich nicht mit den Spielern identisch, das Geschehen der Handlung ist nicht in der Realität möglich usw.

  3. Leutz unterscheidet die letzte Phase – die Gesprächsphase – in vier Unterphasen (Rollen-Feedback, Identifikations-Feedback, Sharing und Processing – nach Leutz, S. 99-106). Die Teilnehmer am Psychodrama berichten darin selber, wie sie ihre Rolle gefunden haben, genauso wie die anderen ihre Kommentare zum “Spiel” abgeben. Auch die Gruppensituation wird in diese Besprechung mit einbezogen.

    Diese Phase existiert beim FRS eigentlich nicht. Außer der Vergabe der Erfahrungspunkte durch den Spielleiter (die einer subjektiven Bewertung des einzelnen Spielverhaltens gleichkommt) und einzelner – mehr zufälliger – Gespräche zwischen Spielleiter und Spielern („Wie hat euch denn mein Spiel gefallen?“) findet nichts an Nachbereitung oder Besprechung statt. Eine Ausnahme bilden in einigen Fällen die Spielberichte – von einem Spieler erstellte und vom Spielleiter kommentierte Mitschriften von Abenteuern, die an alle Spieler verteilt werden. Meist werden die Spieler jedoch mit der Phantasie “hängengelassen”, ein Zurückholen in die Realität findet nicht statt. Auch wird das Spielverhalten nicht gemeinsam besprochen, die persönlichen Hintergründe der Aktionen der Spieler werden nicht beleuchtet.


4.2.2 Die Methoden

Ich möchte hier nur auf die Methoden des Psychodramas eingehen, die Ähnlichkeiten mit denen des FRS haben. Die Methoden mit den größten Gemeinsamkeiten sind die “irrealen” – das Stegreifspiel/ die spontane Improvisation, der psychodramatische “Trip” und die Idee des Zauberladens.

  1. „Das Stegreifspiel kann nach Belieben von verschiedenen oder allen Gruppenteilnehmern gespielt werden. Nichts ist vorgegeben. Es entwickelt sich frei aus mehr oder weniger realitätsbezogenen oder phantastischen Vorstellungen der Spieler.“ (Leutz, S. 111)

    Wichtig ist, daß die Akteure in diesem Spiel Rollen spielen, mit denen sie nicht identisch sind (nach Moreno, 1973, S. 102). Das Stegreifspiel wird zwar im Gegensatz zum FRS nicht von einem Spielleiter erdacht und geleitet, aber das “Setting” ist nicht mit der Realität identisch, die gespielten Charaktere können in einer Spielwelt frei agieren – womit einige der Grundvoraussetzungen des FRS erfüllt wären.

  2. Der psychodramatische Trip – „Psychodramen, welche sich vornehmlich in der Surplus-Realität – in Traum und Imagination – abspielen, werden vom Protagonisten oft intensiver erlebt und interessanter gefunden als ein durch Rauschgift induzierter Trip.“ (Leutz, S. 135). Leutz verwendet als Beispiele für den Trip mehrere Berichte, deren Bilder aus Märchen und Mythen entlehnt sind (u.a. den fliegenden Teppich), so als würden Trips immer in einer mythischen Realität landen.

    Diese Form des Rollenspiels ist eine Reise in eine Spielwelt – wieder mit dem Unterschied zum FRS, daß auch hier (wie beim Stegreifspiel) die Szenarien nicht vom Spielleiter vorgegeben werden, sondern rein der Phantasie des Protagonisten entspringen (von einzelnen Hilfestellungen des Spielleiters abgesehen).

  3. Der Zauberladen. „Jeder einzelne Gruppenteilnehmer begibt sich imaginativ “zu jenem kleinen Zauberladen irgendwo auf der Welt”, in dem alle seine heimlichsten Wünsche erfüllt werden können, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß der Käufer gewillt ist, den vom Psychodramaleiter in der Rolle des Ladeninhabers festgesetzten Preis zu bezahlen.“ (Leutz, S. 133).

    Im FRS ist der Zauberladen16 eigentlich kein eigenes Spiel, sondern nur ein Element – der FRS-Zauberladen ist ein Ort, in dem man sich seine Wünsche erfüllen kann. Dort gibt es nicht nur magische Artefakte aller Art, sondern auch magische Fähigkeiten etc., bei denen zum Kaufpreis auch noch eine für das Lernen zu investierende Zeit hinzukommt (in einigen Spielen gibt es sogar eine Art “Body Shop”, in dem man seinen Körper perfektionieren kann – ein Kaufhaus für den Weg zum Superhelden).

    Im psychodramatischen Zauberladen ist der Preis jedoch mit dem Kauf eng verbunden – so verlangt der Psychodramaleiter für heitere Stimmung die Melancholie des Käufers (nach Leutz, S. 134). Im FRS dagegen ist der Preis für eine Wunscherfüllung Gold, nur in seltenen Fällen muß zusätzlich (Lern-) Zeit investiert werden. Es gibt im Gegensatz zum Psychodrama beim Kauf keinen Lerneffekt, da der Käufer sich nicht mit den Gründen für seine “Unzulänglichkeit” auseinandersetzen muß. Außerdem erfolgt im FRS der Kauf (scheinbar unabhängig vom Spieler) für sich und durch den Charakter, während im psychodramatischen Zauberladen der Protagonist selber seinen Preis bezahlen muß.


4.2.3 Der Spielleiter

Die Rolle des Spielleiters im FRS habe ich schon erläutert (siehe “2.4 Das Spiel”). Leutz nennt für den Psychodramaleiter vier Eigenschaften: „Methodische Kompetenz, einfache Herzlichkeit, sowie Offensein für andere, wirklicher Mut, sich auf nicht vorhersehbare schwierige Situationen einzulassen und schöpferische Phantasie.“ (Leutz, S. 86). Während die letzten drei auch auf den Spielleiter im FRS zutreffen, ist es die “methodische Kompetenz”, die diesem fehlt. Spielleiter im FRS kann jeder werden, der ein Regelheft hat und lesen kann.

Psychodramaleiter sind für die möglichen Probleme beim Psychodrama geschult, die meisten FRS-Spielleiter hingegen stehen Problemen vollkommen hilflos gegenüber. Bezieht man dabei auch noch ein, daß viele FRS-Spieler ein Alter zwischen 12 und 17 haben, dürften Probleme vorprogrammiert sein. Selbst in den FRS-Regelheften oder in Literatur über FRS findet sich kein Hinweis auf die Aufgaben des Spielleiters, die über die Schiedsrichterfunktion hinausgehen.


4.3 Die Funktion im Vergleich

4.3.1 Der Weg aus der Realität

So wie das FRS stellt auch das Psychodrama fiktive Szenen dar – während das Psychodrama aber nicht immer fiktive Szenen spielt, sind es beim Rollenspiel nur fiktive Szenen. Beide Rollenspiele haben gemeinsam, daß ihr Realitätsbegriff es ihnen erlaubt, rein phantastische Szenen darzustellen. Die Realität kann “gebeugt” werden, und in einer “Als-Ob-Situation” kann das Psychodrama Dinge darstellen, die in der Realität unmöglich sind – genauso wie es das FRS in seinen Abenteuern tut.17

Im FRS sind Zeit und Raum untergeordenete Kontinua, der “Logik” der Magie und dem Spielgeschehen unterworfen, die Zeit kann – genauso wie der Raum – im Spiel verändert werden. Im Psychodrama ist es genauso – die gespielte Zeit ist “psychodramatische Zeit”, der gespielte Raum ist imaginärer Raum (nach Leutz, S. 75). Doch das FRS postuliert die Spielwelt als in sich geschlossen, es versucht sie mit Hilfe von Hintergrundinformationen realistisch werden zu lassen. Dieser Antrieb fehlt dem Psychodrama völlig – ganz im Gegenteil ist der gespielte Ort nicht real, was auch jederzeit aus der sogenannten “Realitätsprobe” deutlich werden kann, dem Vergleich des im Spiel möglichen an der Realität.18 Diese Probe fehlt beim FRS völlig, das FRS wird nicht – wie das Psychodrama – an den Grenzen der Realität gemessen.


4.3.2 Die Aufgaben

Das FRS ist ein Weg zur Weltflucht – ein Weg heraus aus dem Alltag, eine Möglichkeit, andere Wesen zu spielen, eine Möglichkeit zur Unterhaltung und ein Spiel in einer Gruppe (siehe “3.0 Warum werden FRS gespielt?”). Ist das Psychodrama dann dem FRS wirklich unähnlich? Das FRS hat eine primäre Aufgabe – die Unterhaltung. Das Psychodrama hingegen hat eine therapeutische Aufgabe: es soll helfen. Dementsprechend muß es auf die Bedürfnisse der Spieler eingehen, die über den Wunsch nach Unterhaltung hinausgehen. Das Psychodrama muß die persönliche Problematik des Spielers bearbeiten (vgl. Hartung, S. 24), was das FRS nicht leisten will.

Leutz spricht außerdem von der “Kreativitätsneurose”, die entsteht, wenn die vorhandene menschliche Kreativität im täglichen Leben nicht genug ausgelebt werden kann (Leutz, S. 77).19 Diese kann beseitigt werden – im FRS und Psychodrama wird die Kreativität in gesteuerte Bahnen gelenkt.

Moreno setzte das Rollenspiel jedoch nicht nur für die eben genannten Ziele, sondern auch zur Rollentherapie ein. „Es [das Rollenspiel] kann aber auch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern dienen. [...] Im Rollenspiel kann jedes Mitglied [einer Gruppe] in einer neuen Rolle auftreten. Oft beeinflußt das Rollenspiel den nächsten soziometrischen Test und verbessert z.B. die Stellung eines unerwünschten Individuums. Das Rollenspiel wird auf diese Weise zu einer Rollentherapie.“ (Moreno 1974, S. 306). Diese Idee des gesteuerten Einsatzes fehlt im FRS völlig.20




5.0 Die Einsatzmöglichkeiten für das FRS

5.1 Einleitung

Im letzten Kapitel habe ich versucht, die Paralellen zwischen Psychodrama und FRS darzustellen. Dabei habe ich festgestellt, daß in der Struktur (z.B. der Rolle des Spielleiters) und der Funktion (z.B. in der Rolle der Realität im Rollenspiel) starke Gemeinsamkeiten zwischen beiden bestehen.

Wenn aber die Methoden ähnlich sind und nur die Ziele unterschiedlich, dann müßte es doch möglich sein, durch einige Änderungen an den Methoden des FRS mit diesem dieselben (therapeutischen) Ziele zu erreichen wie beim Psychodrama.21

Doch: das FRS soll nicht zu einer Kopie des Psychodramas werden. Das FRS ist eine eigenständige Form des Rollenspiels, die ohne Anleihen beim Psychodrama entstanden ist; es ist als Rollenspiel-Methode eigenständig und soll dies auch bleiben. Das FRS bietet andere Möglichkeiten als das Psychodrama – besonders durch sein starkes Ansprechen der Phantasie und das Spielen in “anderen Welten”. Ich versuche keine Synthese zwischen FRS und Psychodrama, sondern eine Form des “Nebeneinanders”, von dem beide Seiten profitieren können.

Ich will in diesem Kapitel versuchen, die für den Einsatz in der Gruppenarbeit am FRS nötigen Veränderungen darzustellen und mögliche Einsatzfelder zu beschreiben.


5.2 Nötige Veränderungen am FRS

Ich möchte hier in kurzen Darstellungen zusammenfassen, was am FRS geändert werden müßte, um es für die Gruppenarbeit einsetzbar zu machen:

  1. Beim FRS muß die Gesprächsphase ausgebaut werden; es muß zu einer Aus- und Bewertung des einzelnen Spielerverhaltens kommen. Insbesondere muß ein Vergleich zwischen der Persönlichkeit des Spielers und dem Verhalten seines Charakters stattfinden. Dem Spieler muß deutlich gemacht werden, daß der von ihm gespielte Charakter er selber ist. Außerdem muß eine Phase des “Zurückholens in die Realität” eingebaut werden, um die Spieler nicht in der Phantasiewelt “versinken” zu lassen (siehe “4.2.1 Die Phasen”).

  2. Der Spielleiter muß eine gewisse “methodische Kompetenz” erhalten. Dies soll nicht bedeuten, daß ab heute alle FRS-Spielleiter für das Spiel geschult werden müssen. Aber wer vorhat, FRS für die Gruppenarbeit einzusetzen, sollte sich nicht einfach mit dem Schreiben eines Abenteuers begnügen, sondern darin auf einzelne Probleme der Spieler eingehen und mögliche Folgen eines Abenteuers bedenken. Die Abenteuer müssen unter Bezugnahme auf die einzelnen Mitspieler geplant werden. Es gibt kein Abenteuer, das jeder Spielergruppe gefällt, genausowenig wie verschiedene Gruppen dieselben Interessen haben. Es liegt am Einfühlungsvermögen des Spielleiters, seine Ideen für Abenteuer den Interessen der Gruppe anzupassen. Er muß das Spiel mehr moderieren und betreuen (siehe “4.2.3 Der Spielleiter”).

  3. Im FRS muß eine Realitätsprobe stattfinden, um den Spielern den Unterschied zwischen Realität und Spiel deutlich zu machen. Die Abenteuer sollen sich an konkreten Problemen und konkreten Problemlösungen orientieren, die Unrealisierbarkeit von mythischen Problemlösungen in der Realität muß deutlich werden22 (siehe “4.3.1 Der Weg aus der Realität”).

  4. Die Themen der Abenteuer müssen sich genauso wie die Themen des Psychodramas an der persönlichen Problematik und den Bedürfnissen der Spieler orientieren. Nur die Steuerung des Einsatzes von FRS ermöglicht eine Rollentherapie!23


5.3 Mögliche Einsatzfelder für das FRS

FRS werden schon in einigen Fällen gezielt eingesetzt, so z.B. in der Begabtenförderung (Weldon/Björnstad, S. 72), in der Arbeit mit psychisch Kranken24 und in Sitzungen mit Selbsthilfegruppen. Während die beiden ersten Möglichkeiten mir nur aus kurzen Hinweisen in der Literatur bekannt sind, ist die Arbeit mit Selbsthilfegruppen als einzige näher beschrieben worden (Kathe, S. 72-75).

Ich selbst bin der Ansicht, daß das FRS für die beiden ersten Einsatzmöglichkeiten (Begabtenförderung, Arbeit mit psychisch Kranken) nicht besser geeignet ist als das psychodramatische Rollenspiel, da die große Stärke der FRS in anderen Anwendungsbereichen liegt. Wie gesagt – es soll nicht darum gehen, das Psychodrama zu ersetzen, sondern neue Aufgabenfelder zu erschließen. Kathe hat die besonderen Stärken des FRS formuliert: „Wichtigster Ausgangspunkt für den gezielten Einsatz von FRSp ist die Möglichkeit, hinter der Maske der Figur ungewohnten Wünschen nachgehen zu können, mit einem gewissen Abstand von der eigenen Wirklichkeit Dinge zu denken oder zu tun, deren sich der Betreffende normalerweise schämen würde, da sie seinem Selbstbild widersprechen, die ihm Angst machen, usw.“ (Kathe, S. 73).

Im FRS kann man (vordergründig) jemand anders sein, seine Wünsche aus“leben”. Verschüttete oder verdrängte Seiten der Persönlichkeit des Spielers, seine Wünsche und Ideale werden durch das Verhalten des Charakters deutlich. Durch die Konfrontation mit verschiedenen wichtigen Lebenssituationen im FRS (z.B. Krankheit, Tod, Verletzungen, Erlangen von Besitz, Aufbau einer Familie) beschäftigt sich der Spieler geistig mit diesen Situationen und denkt damit auch über seine eigene konkrete Lebenssituation nach. Genauso wie die Beschäftigung mit dem Schicksal anderer Menschen durch Bücher, Filme etc. zu einer Auseinandersetzung mit deren Problematik führt, so führt das Bearbeiten einer solchen Problematik im FRS zum Nachdenken bei dem Spieler.

Das FRS bietet andere Möglichkeiten als das Psychodrama – es kann reale Lebenssituationen nur sehr schwer nachgestalten (der Hauptnachteil des Handelns außerhalb der Realität), aber es kann Szenen entsprechend in der Phantasie “nachgestalten” – der Hintergrund ändert sich, aber die Handlung bleibt gleich (vgl. “3.3 Der Wunsch nach der Gruppe”). Da das Gleichbleiben der Handlung den Spielern vordergründig nicht klar ist – es bleibt immer die Ausrede der “Nicht-Realität” der Handlungen – reagieren die Spieler “natürlicher” als im Psychodrama. Wenn dieser Effekt gezielt eingesetzt wird, kann er dazu benutzt werden, die Hemmschwellen der Teilnehmer bei Handlungen in der Realität durch das Spielen von identischen Handlungen im FRS zu senken.

Als letztes möchte ich noch auf die Bedeutung der Wirkung auf die Gruppe für den Einsatz von FRS eingehen. Wie schon beschrieben führt das gemeinsame Spielen von FRS in einer Spielergruppe nach einer Weile zu der Bildung eines Freundeskreises – über den Rahmen des FRS hinaus. Obwohl in unserer Spielergruppe vorher nicht viele starke persönliche Bindungen vorhanden waren, führte das gemeinsame Verbringen von Zeit beim Spielen zum Aufbau von starken persönlichen Bindungen zwischen den Spielern.25

Das FRS bietet eine gelöste Atmosphäre, der – dank der spielerisch/ phantastischen Elemente – einiges der Gezwungenheit des Psychodramas fehlt. Das FRS ist in erster Linie ein Spiel! In dieser Atmosphäre ist es für den Einzelnen leichter, sich einzubringen und Kontakte zu den anderen Gruppenmitgliedern aufzubauen. Die Charaktere müssen das Abenteuer gemeinsam (!) lösen und als Gruppe zusammenwirken. Diese Bindungen übertragen sich von den Charakteren im Lauf des Spieles auch auf die Spieler. Nicht selten wird in persönlichen Gesprächen auf „gemeinsam durchgestandene Abenteuer“ hingewiesen. Gemeinsame nicht-reale Erfahrungen stärken den Zusammenhalt. Die persönlichen Bindungen werden stärker, einzelne isolierte Figuren werden in die Gruppe eingebunden – und sei es auch anfangs nur, um mit deren Hilfe ein Abenteuer zu lösen.




6.0 Praxisbeispiele für den Einsatz von FRS in der Gruppenarbeit

6.1 Einleitung

Ich habe dieses Kapitel in zwei Teile unterteilt. Im ersten Teil beschreibe ich die konkreten Rahmenbedingungen meiner Spielergruppe. Im zweiten Teil will ich in einzelnen Schritten meine theoretischen Überlegungen für den gezielten Einsatz von FRS in der Gruppenarbeit aufzeigen und diese an praktischen Beispielen aus unserer Spielergruppe deutlich machen.


6.2 Die Rahmenbedingungen

6.2.1 Die Spielergruppe

Die Spielergruppe, die sich für meine Arbeit zur Verfügung gestellt hat, existiert seit 1982. Der Kern der Gruppe entstand aus unserer gemeinsamen Arbeit in einer Schülerzeitungsredaktion. Irgendwann kam in diesem Kreis das Interesse an FRS auf, und wir begannen mit dem Spielen von verschiedenen Abenteuern (und unterschiedlichen Regelsystemen) bei verschiedenen Spielleitern.

Wir experimentierten mit verschiedenen Systemen, waren mit ihnen aber nie vollkommen zufrieden. Auf der einen Seite störten uns manche Regelteile (wie z.B. ein Übermaß an Brutalität) oder offensichtliche Lücken in den Regeln; auf der anderen Seite schienen uns die vorhandenen Welten oft nicht farbig genug.

So kam es 1985 zur gemeinsamen Aufstellung eines eigenen Regelwerkes (nicht ohne Anleihen bei anderen Systemen), und zur Ausarbeitung einer eigenen Spielwelt (Alaphabetu genannt). Dort finden immer noch die meisten unserer Abenteuer statt (obwohl von uns noch drei andere FRS gespielt werden). Die Ausarbeitung Alaphabetus führte bisher zu zwei insgesamt über 300 Seiten starken Regelwerken samt Weltbeschreibungen und Spielberichten.

Das Alter der Spieler liegt zwischen 16 und 23 Jahren. Die Zahl der Mitspieler in einem Abenteuer ist unterschiedlich,26 der innere Kern der Spielergruppe (d.h. diejenigen, die eigentlich immer dabei sind) besteht aus zehn Leuten. Bei diesem inneren Kreis handelt es sich ausschließlich um Männer. Es gibt zwar Frauen, die gelegentlich mitspielen, doch handelt es sich dabei um die Freundinnen oder Schwestern der anderen Spieler und nicht um eigenständige Spielerinnen.

Inzwischen hat sich die Besetzung der Spielergruppe verändert (durch den Einfluß von Bundeswehr und Studium), und im Lauf der Zeit mußten die “Lücken” in der Spielergruppe durch Verwandte und Bekannte der vorhandenen Spieler aufgefüllt werden. Hier gibt es einen eigenen Auswahlmechanismus – neue Spieler müssen von der Gruppe akzeptiert werden. Dies wird nicht in gemeinsamen Gesprächen geklärt, sondern ein Spieler schlägt einen neuen Spieler vor und fragt die anderen, ob sie damit einverstanden sind. Sollten diese nicht einverstanden sein, spielt “der Neue” nicht mit. Das verhindert, daß vorher vorhandene persönliche Aversionen in die Spielergruppe übernommen werden. Abgelehnte Spieler nehmen nicht an den Abenteuern teil.

Doch – wer einmal in die Spielergruppe integriert ist, wird von den anderen Spielern auch persönlich angenommen. Der Druck der Abenteuer auf die Gruppe ist normalerweise so stark, daß sie sich gezwungen sieht, gemeinsam zu agieren. Daher ist der innere Zusammenhalt der Spielergruppe relativ stark. Nicht selten kommt es zu “Vorsorgereaktionen” der Charaktere – sie helfen einem anderen Charakter und laden ihm damit die Verpflichtung auf, dasselbe auch im umgekehrten Fall zu tun.


6.2.2 Die Abenteuer

Die Abenteuer, die ich beobachtet habe und die ich im Folgenden beschreibe, sind nur zum Teil auf unserer eigenen Spielwelt gespielt worden (siehe “6.2.1 Die Spielergruppe”). Der Grund, warum ich nicht unsere eigene alte FRS-Kampagne für meine Beobachtungen gewählt habe, ist, daß ich nicht die Möglichkeit hatte, die Rahmenbedingungen dieser Welt vollkommen nach meinen Bedürfnissen zu gestalten. Ich bin in unserer Spielergruppe für die Spielwelt Alaphabetu nicht der einzige Spielleiter, was dazu führt, daß längere, von mir geplante Entwicklungen nur schwer von den Beeinflussungen durch andere Spielleiter freizuhalten sind. Da ich aber für meine Abenteuer alle Bedingungen des Spieles (also nicht nur das Abenteuer an sich, sondern auch den Ort, die Zeit und die Zusammensetzung der Spielergruppe) unter Kontrolle haben wollte, begann ich eine eigene Kampagne.

Die Kampagne baut auf einem Superhelden-Rollenspiel auf. Das hatte für meine Beobachtungen einen großen Vorteil – die hier benutzte Spielwelt ist (bis auf die Existenz von Superhelden und den darauf aufbauenden Veränderungen sowie einigen kleinen Modifikationen durch mich) mit der Realität identisch. Außerdem hatten wir in unserer Spielergruppe vorher schon viele Fantasy-FRS gespielt, und manche Charaktere waren richtig “eingefahren”. Darum wollte ich etwas ganz Neues anfangen.

Erst im nachhinein – nach der Ausarbeitung der Spielercharaktere – stellte ich fest, daß bei dem Superhelden-FRS ein zweiter positiver Aspekt (neben der Realitätsnähe der Spielwelt) hinzukommt. Manche Charakterzüge der Spieler traten beim Spielen von Superhelden deutlicher zutage als beim Spielen von “reinen” Fantasy-Figuren.27


6.3 Theoretische Überlegungen und praktische Beispiele

6.3.1 Die Bildung einer Spielergruppe

Ich will zuerst darauf hinweisen, daß unsere Spielergruppe nicht einfach mit anderen Spielergruppen verglichen werden kann. FRS werden zwar besonders von Jugendlichen (und insbesondere von der Altersgruppe zwischen 12 und 17) gespielt, doch ich kenne auch aktive Spieler in den Fünfzigern, die dieselbe Faszination beim FRS-Spielen verspüren wie die jüngeren Spieler. Es läßt sich aber beobachten, daß mit zunehmendem Alter das Interesse an solchen “kindischen” Spielen abnimmt. Ältere Spieler müssen stärker motiviert werden, um aus ihren Lebensumständen “herauszutreten” und einen FRS-Charakter zu spielen. Aber einmal motiviert spielen sie genauso begeistert wie die Jugendlichen.

Alle Gruppen sind unterschiedlich, alle Gruppen sind anders aufgebaut. Wichtig ist nicht die Art der Gruppe, sondern das gemeinsame Interesse am FRS. Wenn dieses Interesse vorhanden ist, wird sich bei den Spielern eine Gruppe von alleine bilden (siehe “3.3 Der Wunsch nach der Gruppe”).

Bei uns war es nicht nötig, eine neue Spielergruppe für die Kampagne zu bilden. Ich brauchte nur ein paar Telefonanrufe zu erledigen und hatte bald eine Spielergruppe beisammen, die bereit war, sich auf das Experiment eines “gesteuerten Rollenspieles” einzulassen.

Diese Situation ist natürlich normalerweise nicht gegeben. Doch soll das nicht heißen, daß der Einsatz von FRS in der Gruppenarbeit vom Interesse der Gruppe an FRS abhängig ist. Ich habe über mehrere Jahre hinweg die Erfahrung gemacht, daß eigentlich in allen Umgebungen Leute für das FRS motivierbar sind. Natürlich konnte ich vorher nicht immer jedem Interessierten deutlich machen, was das FRS eigentlich ist. Aber der Einladung zu einem Probespiel sind (fast) alle gefolgt.

Bei einem Probespiel – oder allgemein beim ersten Einsatz mit einer neuen Gruppe – achte ich darauf, die Thematik nicht zu “überreizen”. Es ist für viele etwas neues, in einer anderen Welt zu spielen und diese Spielwelt als für im Spiel real zu akzeptieren.

Das erste Spiel sollte nicht die Rettung der Welt als Ziel haben, sondern mit kleinen Aufgaben beginnen. Das Abenteuer muß sich an den Fähigkeiten der Spieler orientieren – und diese sind am Anfang natürlich gering. Am einfachsten ist es, für das erste Abenteuer eine einfache Umgebung mit fest umrissenen Grenzen zu wählen (Höhlensystem, Insel etc.) und eine einfache Aufgabe zu stellen (Finden eines Schatzes etc.). “Einfache Aufgabe” soll natürlich nicht heißen, daß der Spielleiter ein langweiliges Spiel vorgeben soll. Die Gruppe muß ein Interesse am Spiel entwickeln! Außerdem sollten im ersten Abenteuer die Regeln ausprobiert werden – es sollte also (am Anfang ungefährliche) Kampfsituationen geben, aber auch Möglichkeiten zur Anwendung der anderen Fähigkeiten. Viel liegt hier am Fingerspitzengefühl des Spielleiters.28

Diese Vorgaben fielen bei meiner Gruppe weg, da alle Spieler vorher schon einmal FRS gespielt hatten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es möglich ist, mit Leuten FRS zu spielen, die sich vorher kaum oder gar nicht gekannt haben. Es ist aber wesentlich einfacher, mit Gruppen zu spielen, die sich vorher schon etwas kennengelernt und “warmgemacht” haben. Eine Vertrauensgrundlage muß existieren, damit der Einzelne bereit ist, seine Wunschvorstellungen vor den Anderen auszuspielen. Und – wie in jeder Gruppenarbeit – ist eine “Aufwärmphase” wesentlich. Die Namen der Mitspieler sollten bekannt sein und die Motivation der anderen zum Mitspielen (nichts frustriert mehr als die Angst, ein Mitspieler sei vielleicht eine Art geheimer Beobachter!). Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es vielen Spielern einfacher fällt, ihren Charakter kurz vorzustellen („Ich bin Conan der Barbar und Held von Beruf. Ich bin 192 cm groß und gefährlich...“) als sich selbst zu beschreiben. Manchmal ist es einfach, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen – der Spieler soll erst seinen Charakter vorstellen, und dann sich selber. Interessant ist natürlich, welche Wertigkeit der einzelne Spieler seiner wirklichen Persönlichkeit gegenüber dem Spielcharakter einräumt.


6.3.2 Die Erstellung von Charakteren

Am Anfang brauchen die Spieler eine lange “Aufwärmphase”, um mit dem “role taking” umgehen zu lernen. Die Figur muß ausgearbeitet und dann langsam in das Spielgeschehen eingepaßt werden.29 Viele Spieler müssen dazu erst motiviert werden, ein “II. Ich” zu erarbeiten und in die Formen der Regeln zu fassen.

Bei meinem Superhelden-Spiel war es so, daß ich (regelkundig wie ich nunmal war) die Spieler bat, mir die Umrisse der Fähigkeiten ihres Charakters zu schildern und sich eine kleine Hintergrundgeschichte für ihn auszudenken. Ich faßte dann ihre Angaben in das nüchterne Regelsystem. Diese Möglichkeit ist zu empfehlen, wenn mit Regelsystemen gespielt wird, bei denen die Erarbeitung eines Charakters schwer zu erklären und/oder langwierig ist.

In meinem Spiel war es immer wieder verblüffend zu sehen, was die einzelnen Spieler aus ihren Figuren ausarbeiteten. In einzelnen Fällen waren es natürlich Kopien bekannter Superheldenvorstellungen aus Comic und Film – fliegende Allzweckkampfmaschinen und mächtige Merlin-Kopien. Aber in einigen Fällen war ich (und auch die anderen Spieler) von den ausgearbeiteten Charakteren überrascht.

Da war der Student mit der Bärensammlung, der (natürlich) eine Art kleinen pelzigen Superteddybär ausarbeitete, dem keiner so recht etwas antun wollte & konnte (und trotzdem nannte er sich “Murder Mymmlin”. Warum nicht gleich ein Killer? Oder warum nicht gleich ein reiner Teddybär?).

Oder der andere Student, der (sehr überzeugend, ohne daß das ironisch klingen soll) einen geistesgestörten NASA-Piloten und Physiker spielte. In diesem Fall kam es in einigen Fällen zu längeren Diskussionen zwischen Spieler und Spielleiter über die Frage „Mein Charakter kann das aber alles!“. Ich – befragt als Spielleiter und letzte Regelinstanz – verstehe nicht allzuviel von Flugzeugen und ließ mich vom Spieler belehren, der hier seine Faszination an Flugobjekten bei der Ausarbeitung seines Charakters voll eingebracht hatte.

Doch nicht immer sind die Zusammenhänge zwischen Spieler und Charakter so deutlich. Obwohl ich der Meinung bin, daß ein Spieler nur Seiten seiner selbst im FRS spielen kann (siehe auch “3.5 Die Sehnsucht nach dem II. Ich”), ist es mir nicht immer klar, woran es liegt, daß bestimmte Spieler bestimmte Charaktere spielen. Aber dadurch, daß ich sie als Teil der Persönlichkeit des Spielers betrachte, erlange ich manchmal durch die gespielten Charaktere einen besseren Einblick in das “Innenleben” des Spielers, und nach einer Weile kann ich vielleicht die Bedeutung der Charaktere erklären (was mir nicht immer gelingt).

Man muß die Spieler nur ermutigen, ihren Phantasien freien Lauf zu lassen; und sich davor hüten, Wertungen über die Originalität ihres Charakters abzugeben. Es gibt fast nichts, was einen Spieler mehr verletzt, als die Herabwürdigung seines Charakters.

Ich habe die Erfahrung gemacht, daß nach einem kurzen Anstoß alle Spieler in der Lage waren, sich Spielfiguren auszuarbeiten (und wenn das auch in einigen Fällen nur darin endet, daß bekannte Figuren nachgespielt werden).

Ich hatte einen Spieler, der mir versicherte, er habe noch nie in seinem Leben einen Superhelden-Film oder -Comic gesehen. Wie sollte er nun eine Figur ausarbeiten? Er hoffte offensichtlich darauf, daß ich ihm einen Charakter vorgeben würde. Ich begann dann mit ihm ein Gespräch und versuchte, ihn dazu zu bringen, sein Bild eines Superhelden zu beschreiben. Nach einer Weile begann er zu erzählen, und etwas später „fiel ihm ein“, daß er doch schon entsprechende Comics gelesen hatte – und sichtlich in seinem Selbstvertrauen gestärkt, begann er mit der Ausarbeitung einer eigenen Figur.

Die Spieler müssen darin bestärkt werden, den Kräften ihrer eigenen Phantasie zu vertrauen. Kreativität und Phantasie sind wichtig für das FRS – und werden von ihm auch unterstützt.30 In meinem eigenen Spiel hatte ich – wie gesagt – den Vorteil, daß die Spieler schon FRS-erfahren waren. Sie vertrauten ihrer Kreativität soweit, daß sie (fast) ohne Hilfestellungen meinerseits einen Charakter erarbeiten konnten, der ihnen auch selber zusagte.

Aber es ist möglich, mit einer neuen Spielergruppe diesen Stand zu erreichen – man muß ihr nur eine Chance lassen, ihre Kreativität in gelenkte Bahnen zu steuern.


6.3.3 Das Schreiben eines Abenteuers

Die besonderen Kriterien bei der Erstellung des ersten Abenteuers habe ich schon einmal angesprochen (siehe “6.3.1 Die Bildung einer Spielergruppe”). Hier möchte ich nun auf die Vorbereitungen für die danach folgenden Abenteuer eingehen. Die Situation nach dem ersten Abenteuer sollte sein, daß sich die Spieler an ihre Charaktere gewöhnt haben, die Regeln sind ungefähr bekannt (es langt wirklich, wenn der Spielleiter alle Regeln beherrscht), und die Spielergruppe hat sich konstituiert.

Ich habe mir nun überlegt, welche Dinge ich ansprechen/ bearbeiten will. Ich wollte versuchen, konkrete Probleme aus der Realität auf die Spielebene zu übertragen und dort zu bearbeiten. Auch wenn ich die tatsächlichen Umstände nicht auftauchen lassen konnte, so konnte ich doch im Spiel die Situationen nachstellen (vergleiche “3.4 Die Suche nach der Zuflucht” und “5.3 Mögliche Einsatzfelder für das FRS”).

In einigen Fällen störte das Verhalten eines Spielers den Zusammenhalt der Gruppe (z.B. seine arroganten Bemerkungen über die Charaktere der anderen Spieler). Ich konnte Figuren auftauchen lassen, deren Verhalten eine übertriebene Kopie des Verhaltens eines bestimmten Gruppenmitglieds war. Besondere Charakterzüge (in diesem Fall die Arroganz) konnten so deutlich dargestellt werden. In fast allen Fällen erkannten die Spieler sich selbst in den Figuren wieder und erkannten die (bei der Figur stark überzeichneten) eigenen Fehler wieder. Den meisten war klar, daß die Kritik nicht bösartig sein sollte, und sie überdachten ihr Verhalten dementsprechend. In den wenigen Fällen, wo den Spielern ihre Kopie nicht auffiel, lag es mehr an meiner Darstellung der Figur als an der mangelnden Selbsterkenntnis des Spielers.

Natürlich ist diese “Parodie” nur einsetzbar, wenn man die Betroffenen nicht im Spiel “fertigmacht”, sondern mit ihnen vorsichtig umgeht. Ich wollte den Spiegel vorhalten, ohne lächerlich zu machen.31

In Einzelfällen tauchten schon vorher (d.h. vor meinen “gesteuerten Spielen”) in unseren Spielen Figuren mit Namen auf, die Variationen der Namen einzelner Mitspieler waren. Auch diese wiesen Charakterzüge auf, die für die entsprechende Person typisch waren.32 Diese Idee habe ich übernommen und später im Spiel mehrmals benutzt, jedoch nicht nur für Figuren. So war z.B. einer meiner Mitspieler sehr an seiner späteren Karriere in der freien Wirtschaft interessiert und erzählte immer von seinen finanziellen Wünschen in der Zukunft. Was lag also näher, als eine Firma nach ihm zu benennen? Der Namensträger erkannte den Wink mit dem Zaunpfahl, und “verschonte” die Spiele mit seinen Diskussionen über zukünftige Einkünfte.

Ich sprach schon einmal von der Konfrontation mit wichtigen Lebenssituationen im Spiel (“5.3 Mögliche Einsatzfelder für das FRS”). Ich merkte bei der Vorbereitung eines Abenteuers, daß ein Spieler in seinem Familienleben Schwierigkeiten hatte. Dieser Spieler hatte zu seinem Vater zwar ein sehr kameradschaftliches Verhältnis, doch fehlte eine enge gefühlsmäßige Beziehung. Was lag also näher, als seinem Superhelden ein vergleichbares Familienleben an den Hals zu dichten? In einem Abenteuer war ein Teil der Aufgabenstellung die Suche nach dem verschollenen Vater dieses Spielers. Es war interessant zu beobachten, daß dieser Spieler überhaupt kein Interesse daran zeigte, seinen Vater wieder aufzufinden. Trotz verschiedener Hinweise auf den Vater (Bilder, Briefe, Erzählungen) unternahm er nichts, um ihn zu finden. Im Spiel riß daraufhin die Verbindung zu seinem Vater ab, er war dann wieder aus dem Leben des Charakters verschwunden. Später darauf hingewiesen beschwerte sich der Spieler bei mir, daß ich ihm nicht klargemacht habe, wie wichtig der Vater für seinen Charakter sei. Er übertrug die Einstellung zu seinem Vater aus der Realität in das Spiel. Beim Nachdenken über die Darstellung im Spiel wurden ihm die Umstände zum ersten Mal bewußt.

Eine andere Möglichkeit ist die Bearbeitung von gruppeninternen Problemen im Spiel. Einmal gab es in unserer Gruppe beträchtliche Spannungen durch einen Streit zwischen zwei Spielern. Im nächsten Abenteuer konstruierte ich eine übermächtige Bedrohung von außen (die bösen bösen Feinde der Superhelden) und konfrontierte die beiden Spieler einzeln mit der Bedrohung. Ihre Kräfte waren getrennt zu schwach, und bald kam ihnen die Erkenntnis, daß sie nur gemeinsam gegen das Problem vorgehen konnten – was sie dann auch taten. Damit waren die persönlichen Schwierigkeiten zwar nicht gelöst, aber ein Teil des aufgestauten Ärgers aufeinander hatte sich im Spiel durch die erzwungene Zusammenarbeit aufgelöst.

Die Situation der Gruppe (Bedrohung von außen) wurde zu einem Zwang, der die Spieler aneinander band. Die Gruppe hat ein berechtigtes Interesse am Weiterleben ihrer Charaktere, und wenn die Charaktere bedroht sind, reagiert die Gruppe. In einigen Fällen werden Charaktere von Mitgliedern der eigenen Gruppe bedroht, so z.B. durch gruppeninterne Kämpfe. Diese Auseinandersetzungen sind Übertragungen aus der Realität in das Spiel, und sie können (meist) dadurch gelöst werden, daß man sie im Spiel behandelt, unter den Charakteren diskutiert und dann (wenn möglich) im Spiel löst. In allen Fällen ging in meiner Gruppe die Lösung eines Problems zwischen Charakteren Hand in Hand mit der Lösung des Problems der Spieler.


6.3.4 Beim Spielen

Ich selbst habe mir viele Gedanken darüber gemacht, ob ich mit der Unterstützung von Machtphantasien und dem Erfüllen von ungewohnten Wünschen manchmal nicht schade statt zu helfen. Die Spieler haben im FRS die Möglichkeit, ihre Wünsche wahr werden zu lassen. Wie mache ich ihnen klar, daß diese Wünsche in der Phantasie zwar erfüllbar sind, daß dies in der Realität jedoch unmöglich ist?

Irgendwann fand ich eine Antwort (und wohl auch eine Beruhigung meines Gewissens). Ich habe versucht, öfters eine Realitätsprobe durch die Erinnerung an die Realität einzubauen.

Daher versuche ich in meinen Abenteuern ein “Preis-Leistungsverhältnis” beim Erfüllen von Wünschen einzuhalten. Das soll heißen, daß ich (wie im psychodramatischen Zauberladen) den Preis für die Gaben dem persönlichen Wert für den Charakter angepaßt habe. Das verhindert natürlich nicht den Erwerb solcher Gaben, doch der Preis bringt den Spieler doch zum Nachdenken über die Relevanz ihrer Erwerbung für ihren Charakter.


Einmal verlangte ich von einem Spieler für den Erwerb von verschiedenen Zaubern seine Seele – die er mir gerne dafür gab. Doch etwas später begann er sich schon zu fragen, ob der Kauf diesen Preis wert war...33 Er überlegte, ob der Erwerb von Macht den Preis seiner Identität wert war.

Natürlich können die Preise nicht immer so metaphysisch sein. Viele Spieler überdenken schon hohe Geldsummen lange, bevor sie sie für eine Gabe lassen. Auch dieses Nachdenken läßt sie den Wert des begehrten Objekt bedenken.

Und ich achte darauf, keine allmächtigen Werkzeuge zu verschenken – im FRS sollen keine Spieler zu Göttern werden, sondern die Charaktere sollen durch den Erhalt von Gegenständen oder das Erlernen von Fähigkeiten stärker werden, aber nicht übermenschlich. Und: keine Gabe ohne Achillesferse, denn auch der mächtigste Magier muß eine Schwäche haben, um seine Verwundbarkeit immer wieder vor Augen geführt zu bekommen. Die FRS-Charaktere dürfen nicht so interessant werden, daß ein Spieler die Realität komplett gegen den Traum tauschen würde.


Zweitens habe ich als Spielleiter immer die Konsequenzen der Spieleraktionen dargestellt. Würde das nicht geschehen, könnten die Charaktere auf der Spielwelt tun und lassen, was sie wollen – was in der Realität offensichtlich unmöglich ist.

So hat z.B. die Superheldentruppe einmal einen Mitspieler aus dem Gefängnis befreit und dabei einige Polizisten niedergeschossen. Ich mußte mir also etwas überlegen, um so etwas in Zukunft zu verhindern. Denn hier ging es nicht mehr um das Ausleben von Aggressionen, sondern um reine Gewalt. Ich überlegte mir also für das nächste Abenteuer eine gleichermaßen brutale Truppe (eine Kopie der Superheldentruppe), die gegen diese vorgehen sollte. Auf einmal waren die Spieler sauer, weil sie mit mordenden Gegnern konfrontiert wurden. Ich erklärte, daß es sich dabei auf die angemessene Reaktion auf ihr Verhalten im letzten Abenteuer handele. Das ließ sie nachdenklich werden, weil sie ihr eigenes Verhalten auf sich selbst angewandt sahen.


6.3.5 Die Nachbereitung

Als die große Schwäche des FRS nannte ich die fehlende Gesprächsphase nach dem Spiel, das “Hängenlassen in der Phantasie” (siehe “5.2 Nötige Veränderungen am FRS”). Wie sollte ich das in einem meiner Spiele beheben?

Der erste Einfall, den ich hatte, war eine Aufnahme der Idee des Spielberichtes. Ich bat jeweils einen der Spieler, zu dem Abenteuer einen solchen zu schreiben. Um die Idee für die Spieler schmackhaft zu machen, verteilte ich Erfahrungspunkte an den Verfasser. Der Spielbericht ist eine ein paar Seiten lange Zusammenfassung des Spielgeschehens, damit man sich später an ein Abenteuer erinnern kann. Diese Berichte versah ich mit Bemerkungen – Zusatzinformationen zum Abenteuer (Zeitungsausschnitte etc.), oder persönlichen Kommentaren von mir. In diesen Kommentaren konnte ich dann meine Meinung durch andere Spielfiguren deutlich machen, z.B. indem ich im Spielbericht ein Interview zitierte, das einer der Gegner der Superheldentruppe der Presse gegeben hatte. In diesem Interview konnte ich Fehler der Gruppe (z.B. Brutalität) anprangern, ohne dabei als Spielleiter belehrend zu wirken.

Aber: diese Aufarbeitung des Spieles lag mir immer noch zu weit hinter dem eigentlichen Abenteuer. Ich versuchte also, direkt nach dem Abenteuer anzusetzen, indem ich die Spieler noch eine Weile zusammenhielt – zum gemeinsamen Pizzaessen oder ähnlichen Aktivitäten, die mit dem Spiel nichts zu tun hatten. In lockerer Umgebung war es dann relativ einfach, langsam vom Spiel in die Realität zurückzugleiten. Natürlich ließ es sich nicht vermeiden, daß auch dort über das Spiel geredet wurde. Aber die Gespräche drehten sich nicht mehr nur noch um das FRS. Und in der lockeren Atmosphäre war es einfach, als Spielleiter das Verhalten gewisser Charaktere im Spiel anzusprechen. Wenn der Druck der Spielsituation weg war (hier mußte man sich nicht mehr bewähren), konnten manche Spieler sehr locker über das Verhalten ihrer Charaktere reden. Sie konnten dabei auch auf die Gründe ihres Verhaltens eingehen, und in einigen Fällen kam es so zu längeren Gesprächen über die Probleme eines Spielers.

Eine weitere Schwachstelle des FRS war das Fehlen einer Realitätsprobe. In meinen Superhelden-FRS war es relativ einfach, eine Realitätsprobe einzubauen. Da diese Spiele in einer Art “Semi-Realität” stattfanden, konnte ich alle Ereignisse im Spiel immer an den Möglichkeiten der Realität messen.

Wenn z.B. ein Spieler behauptet, er könne in einer Sekunde aus dem Fahrstuhl springen, sein Maschinengewehr zücken, drei Gegner niederschießen und ein deutsches Volkslied pfeifen, so konnte ich ihm erklären, daß so etwas wohl ausgesprochen unrealistisch sei. Dadurch, daß ich solche Rückfragen, solche Verweise auf die Realität, von mir aus in das Abenteuer einbaute, wurden die Spieler öfters an die Realität erinnert und maßen ihr Verhalten nicht länger an den unrealistischen Wertmaßstäben ihres Spielcharakters (soweit überhaupt vorhanden), sondern an ihren eigenen ethischen Vorstellungen. Natürlich ist diese Form der Realitätsprobe auf jeder FRS-Welt möglich, auf der die wichtigsten Naturgesetze Gültigkeit haben.

Da die gesellschaftlichen Umstände auf der Superhelden-Spielwelt mit denen der Realität identisch waren, wurden die Spieler dort oft mit auch für ihr Privatleben relevanten Situationen konfrontiert (Familienleben, Beruf, aber auch Politik und Religion), was bei dem Spielen auf einer Fantasy-Welt – ohne Bezüge zu unserer Welt – teilweise unmöglich ist. Aber: überall ist es möglich, die kleineren Zusammenhänge (z.B. Familie) im Spiel nachzustellen.

In der Nachbereitung ist es wichtig, auf das Verhalten der einzelnen Spieler einzugehen. Es hat wenig Sinn, den Spielern ihre gesellschaftlichen Realitäten oder ihre eigenen Probleme im Spiel aufzuzeigen, ohne Lösungsvorschläge zu machen. Man muß ihnen Möglichkeiten an die Hand geben, ihre Probleme selber zu lösen und ihnen die eigene Hilfe bei der Problemlösung anbieten.

Dies war der Punkt, an dem ich mich als Sozialarbeiter gefordert fühlte. Die Probleme zu erkennen war oftmals kein so großes Problem, genausowenig wie das Einbauen dieser in das Spiel ein Problem war.34 Das hätte jeder tun können, der die Gruppe ein bißchen kannte.

Das Problem war die Bearbeitung der Probleme nach dem Spiel – für mich die schwierigste Phase im FRS. Hier halfen mir meine FRS-Erfahrungen nichts mehr – aber sie hatten mir geholfen, Zugang zu den Problemen der Spieler zu erhalten.




7.0 Zusammenfassung

7.1 Einleitung

Als ich anfing, diese Diplomarbeit zu schreiben, war ich mir nicht sicher, was mir auf dem Weg zur Fertigstellung widerfahren würde. Ich war mir auch nicht sicher, ob es mir gelingen würde, meinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden und „andere und neue Kriterien für die Beurteilung von FRS zu erarbeiten und darzustellen“ (siehe “1.0 Einführung”).

Dessen bin ich mir noch nicht sicher.

Wichtig ist mir die Feststellung, daß die Möglichkeiten des “wilden Psychodramas” FRS eingesetzt werden können, um Menschen bei der Lösung konkreter Probleme zu helfen. Wichtig ist für mich auch die Feststellung, daß die eigene (anfangs blinde) Faszination an FRS kanalisiert und eingesetzt werden kann. Solange es mir gelingt, meine eigene Faszination auf andere auszuweiten und ihnen damit „einen Gefallen zu tun“, werde ich weiter spielen können, ohne mir Gedanken über die Realitätsflucht machen zu müssen, wenn ich meine eigenen Einschränkungen beachte.

Ich will hoffen, daß es andere FRS-Spieler gibt, die aus diesen Erfahrungen etwas lernen, und selber die Möglichkeiten des FRS anders einsetzen. Ich will auch hoffen, daß es Sozialarbeiter gibt, die nun dem FRS nicht mehr so skeptisch gegenüberstehen, sondern sein großes Potential an Möglichkeiten erkennen und einzusetzen lernen.


7.2 Ausblick

Das FRS ist in seinen Strukturen dem Psychodrama sehr ähnlich.

Unterschiede bestehen nur darin, daß das FRS nicht gesteuert/ gelenkt wird (darum auch meine Klassifikation des FRS als “wildes Psychodrama”). Die Unterschiede sind so gering, daß man mit einigen Änderungen das FRS steuern/ lenken kann. Es erhält damit dasselbe Instrumentarium wie das Psychodrama und wird zu einer Alternative neben (!) diesem.

Das FRS bietet – durch sein starkes Ansprechen der Phantasie – ein neues Betätigungsfeld für die Rollenspiele. Es dringt tiefer in die Phantasien der Spieler ein als das Psychodrama. Dafür ist ihm eine Bearbeitung von realen Erlebnissen (natürlich) schlechter möglich als mit dem Psychodrama.

Das FRS ist in der Gruppenarbeit einsetzbar. Bei meinen Spielen war es möglich, über das Abenteuer in die Problematiken der Spieler und der Gruppe einzudringen und sie darzustellen. Eine Bearbeitung der Probleme im Spiel war möglich, eine Lösung im Abenteuer selber (fast) nicht.35

Die Verarbeitung muß nach dem Spiel stattfinden – aufbauend auf den Erfahrungen, die man aus dem Spiel gewonnen hat.

Für diese Verarbeitung kann ich keine Richtlinien anbieten – hier sind nicht Spielmechanismen und -techniken gefragt, sondern Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen. Doch ohne diese ist keine Gruppenarbeit, keine Therapie möglich.

Ich kann nur das Instrumentarium beschreiben. Das habe ich versucht. Alles andere liegt jetzt nicht mehr bei mir...





8.0 Literaturverzeichnis

Argelander, Hermann (1972). Gruppenprozesse. Reinbek bei Hamburg.
Bettelheim, Bruno (1988). Kinder brauchen Märchen. 11. Auflage. München.
Franke, Jürgen & Fuchs, Werner (Hrsg.) (1985). Knaurs Buch der Rollenspiele. München: Knaur.
Hartung, Johanna (1977). Verhaltensänderung durch Rollenspiel. Düsseldorf.
Huizinga, Johan (1969). Homo ludens. Reinbek bei Hamburg.
Kaiser, Ulrich (Hrsg.) (1984). Das große Buch der Fantasy-Rollenspiele. Meitingen: Corian Verlag.
Kathe, Peter (1987). Struktur und Funktion von Fantasy-Rollenspielen. Friedberg: Club für Fantasy- und Simulationsspiele e.V.
Leber, Alois et al (1988). Reproduktion der frühen Erfahrung, in: Psychoanalytische Reflexion und therapeutische Verfahren in der Pädagogik, Band 8. Frankfurt am Main.
Leutz, Grete (1974). Das klassische Psychodrama nach J.L. Moreno – Psychodrama: Theorie und Praxis, Band 1. Berlin/Heidelberg/New York.
Moreno, Jacob Levy (1973). Gruppenpsychotherapie und Psychodrama. Stuttgart.
Moreno, Jacob Levy (1974). Die Grundlagen der Soziometrie. 3. Auflage. Opladen.
Science Fiction Jahrbuch 1987 (1987). Raststatt.
Science Fiction Times 7/84 (1984). Meitingen.
Turkle, Sherry (1986). Die Wunschmaschine. Reinbek bei Hamburg.
Weldon, John & Björnstad, James (1986). Fantasy – Das Spiel mit dem Feuer. Asslar: Schulte & Gerth.
Widlöcher, Daniel (1974). Das Psychodrama bei Jugendlichen. Olten und Freiburg im Breisgau.
Yablonski, Lewis (1978). Psychodrama: die Lösung emotionaler Probleme durch das Rollenspiel. Stuttgart.




9.0 Erklärung

Ich versichere, daß ich die Arbeit ohne fremde Hilfe angefertigt habe und mich anderer als der von mir angegebenen Schriften und Hilfsmittel nicht bedient habe.



Danksagungen:

Für Arno, Bettina, Frank, Hagen, Henning, Isa, Johannes, Markus, 2 x Michael, Oli, Olli, Peter, 2 x Sabine, Serge, Stefan, Sven und Thomas, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre.
Und besonders für Sebastian, ohne den das hier nicht geschrieben worden wäre.



Anmerkungen:

1 Vgl. Kathe, S. 12-15 und Franke in “Knaurs Buch der Rollenspiele”, S. 20-22.
2 Für Beschreibungen des deutschen Rollenspiel-Marktes verweise ich auf die entsprechenden Artikel im jährlich erscheinenden “Science Fiction Jahrbuch”.
3 Entsprechende Listen befinden sich z.B. in “Knaurs Buch der Rollenspiele”, S. 231-235 und im “Das große Buch der Rollenspiele”, S. 192-195.
4 Oftmals werden keine eigenen Welten geschaffen, sondern vorhandene Fantasy-Welten aus der Literatur übernommen. “D&D” z.B. orientiert sich an irdischen Mythen, während “Call of Cthulhu” auf dem Werk von H.P. Lovecraft aufbaut.
5 Es gibt Spielsysteme, in denen wesentlich mehr an Hintergrund für einen Charakter ausgearbeitet wird – von Kindheitserinnerungen über Verwandtschaftsbeziehungen bis hin zu Einfluß und Gesinnung.
6 Extra für FRS gibt es eine große Auswahl an verschiedenen Würfeln – über normale 6-seitige bis hin zu 20-seitigen Würfeln und Würfeln zum Erlangen von Prozentergebnissen.
7 Vgl. Kathe, S. 9 und 23f.
8 „Manchmal ist es sogar nötig, heimlich das Würfelpech zu korrigieren, wenn er [der Spielleiter] weiß, daß ein schlechter Verlierer [...] eine Situation kippen könnte.“ (Kathe, S. 53)
9 In vielen Regelsystemen steht so der Satz: „Der Spielleiter hat immer Recht!“.
10 Je nach Weltanschauung sprechen die Autoren statt von Weltflucht auch vom „Traum von nicht-entfremdeter Arbeit“ (Kathe, S. 67) oder der „Oase der Ent-Technisierung“ (Bieger in “Science Fiction Times”, 7/84, S. 10). Ich kann mich beiden Theorien nicht anschließen.
11 So in der Literatur (Oz, Shangri-La, Utopia) oder im Film (Brigadoon, Xanadu).
12 Vgl. Weldon/Björnstad, S. 46.
13 Vgl. Kathe, S. 67.
14 Verwiesen sei auf Bettelheim, der ähnliches auch für das Verhältnis Kind – Märchenheld schreibt; das Kind “verschmilzt” mit dem Helden: „Auf dem Wege der Identifikation mit dem Helden kann das Kind in seiner Vorstellung die wirklichen oder eingebildeten Schwächen des eigenen Körpers kompensieren.“ (Bettelheim, S. 69).
15 Vgl. auch Hartung, S. 22-23 – “Methodische Überlegungen zum angeleiteten Rollenspiel”.
16 Diese Institution heißt in einigen Regelsystemen wirklich “Zauberladen”.
17 Leutz spricht sogar von der “Semi-Realität des Psychodramas” (Leutz, S. 77).
18 Vgl. Leutz, S. 29 und S. 78.
19 Sinngemäß auch Widlöcher, S. 122 und Yablonski, S. 91
20 Man könnte behaupten, das FRS sei eine Art “wildes Psychodrama”.
21 Der Umkehrschluß ist natürlich auch zulässig – Veränderungen am Psychodrama machen es als Spiel und Freizeitbeschäftigung einsetzbar.
22 So tragisch es auch ist – ein “deus ex machina” findet in der Realität nicht statt. Wie sollte ein Wunder im FRS für konkrete Problemlösungen übertragbar sein?
23 Zur Erarbeitung von Themen für das Rollenspiel vgl. Moreno 1974, S. 329f.
24 Vgl. Turkle, S. 353f.
25 Soweit es mir von anderen Spielergruppen bekannt ist, geschieht dort dasselbe.
26 Manche Spielleiter legen eine Obergrenze für die Zahl der Mitspieler bei ihren Abenteuern fest. Das führt dazu, daß nicht immer alle Spieler mitspielen können.
27 Zur besonderen Funktion des Spielens von Comicfiguren im FRS vergleiche Trescher “Narzißmus und Comic” in “Reproduktionen der frühen Erfahrung”.
28 Zu den Aufgaben des Spielleiters siehe “2.3 Die Regeln”, “2.4 Das Spiel” und “4.2.3 Der Spielleiter”.
29 Ich halte das Vorgeben von fertigen Charakteren (vom Spielleiter erstellt oder im Abenteuer vom Verfasser vorgegeben) zwar für weniger arbeitsintensiv, aber dafür nimmt es einen großen Teil der Faszination des “role making” beim Erstellen von eigenen Charakteren.
30 siehe2.0 Was sind FRS?”, “4.3.2 Die Aufgaben” und “5.0 Die Einsatzmöglichkeiten des FRS”.
31 Die Ähnlichkeit mit der psychodramatischen Spiegel-Technik ist offensichtlich.
32 Eine Spielergruppe machte sich mal viel Arbeit damit, eine Figur von mir, welche mich selber darstellte, von einem Flugschiff in den Tod zu stürzen. Wohl eine der “umwerfendsten” Methoden, Mißbilligung am Spiel auszudrücken...
33 Auch dieses Motiv kam mir irgendwie bekannt vor...
34 In unseren Spielen wurden öfters persönliche Probleme aufgegriffen und dargestellt – wenn auch oft (scheinbar) ironisch. Doch diese Form des “wilden Psychodramas” ist wegen der mangelnden Nachbereitung für eine Gruppenarbeit kaum verwendbar.
35 Das “fast” entsteht hier dadurch, daß gruppeninterne Streitigkeiten schon durch das Spiel selber lösbar sind, aber einzelne Probleme kaum im Spiel zu lösen sind – nicht immer sind die Lösungen für private Probleme so einfach und klar, daß man sie im Spiel ansprechen und lösen kann, bzw. Lösungsvorschläge anbieten kann.


Liste von weiteren
Quellen über Rollenspiele
Listing of other sources
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